Zum 5jährigen Bestehen

5 Jahre Interreligiöses Friedensgebet Berlin

ENTSTEHUNG UND VERLAUF
Das „Interreligiöse Friedensgebet Berlin“ geht auf eine Einladung zurück, die nach den Anschlägen vom 9.11.2001 in New York ausgesprochen wurde. Der Kreis, der sich daraufhin in den Räumen der Gemeinde deutschsprachiger Muslime und gelegentlich auch im Canisius-Kolleg traf, beriet lange über Fragen des eigenen Selbstverständnisses sowie über mögliche Formen und Orte eines Gebetes der Religionen in Berlin. Das erste Gebet fand im Mai 2002 statt. Nach einigen Experimenten und Erfahrungen ergab sich eine Struktur, in der wir nun seit Oktober 2003 regelmäßig beten:
Wir versammeln uns jeden ersten Sonntag im Monat auf dem Gendarmenmarkt in Berlin, und zwar vor dem Deutschen Dom. Manchmal sind wir eine sehr kleine Gruppe, manchmal sind wir 30 bis 40 Personen. Auf den unteren Stufen des Domes wird ein Plakat entfaltet, auf dem weithin lesbar steht: „Interreligiöses Friedensgebet Berlin – betend den Mut finden zu sprechen.“ Das Plakat bleibt während des ganzen Gebets, das etwa eine Stunde dauert, entfaltet. Eine Person aus dem Kreis verteilt an vorübergehende Passanten Zettel, auf denen die Gruppe sich und das Thema des Gebetes vorstellt. Die anderen Personen stehen in offenen Halbkreis, so dass Interessenten auch spontan hinzutreten und wieder weggehen können.
Das Gebet wird von einem Teilnehmer eröffnet und am Ende auch von diesem abgeschlossen. Zwischendurch gibt es keinen festen Verlauf oder geplante, vorbereitete Texte. Vielmehr sind alle Teilnehmenden eingeladen, ein Gebet zu sprechen, das ihnen auf dem Herzen liegt oder das sie mitgebracht haben. Nach jedem Gebet – oder auch nach jeder längeren Phase gemeinsamen Schweigens – wird ein Lied angestimmt, das textlich offen ist, so dass alle oder doch möglichst viele es mitsingen können, zum Beispiel eine Melodie mit dem einfachen Wort „Shalom/Salam“ oder andere, ähnlich offene Gesänge. Wenn größere Gruppen von Passanten stehen bleiben, kann es auch sein, dass einer die Gruppe mit lauter Stimme vorstellt: „Wir sind eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen religiösen Traditionen: Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Sikhs, und auch religiös suchende Menschen ohne spezielle Religionszugehörigkeit.“ Manchmal stellen sich Passanten hinzu. Aber ansonsten bleiben die Betenden vor allem dem Gebet zugewandt und nicht der Wahrnehmung dessen, was auf dem Platz passiert.
Zwischen den Gebeten trifft sich die Vorbereitungsgruppe ebenfalls monatlich – in der Regel in der Gemeinde der deutschsprachigen Muslime -, um über die Erfahrung des letzten Gebetes zu sprechen und auf Grund der aktuellen privaten oder politischen Ereignisse nach Themen zu suchen, die beim nächsten Gebet im Mittelpunkt stehen könnten. Die Einladung zu diesem Auswertungs- und Vorbereitungsgespräch ist offen. Am Ende wird ein Gesprächsprotokoll verfasst, das auf dem Zettel abgedruckt wird, der bei nächsten Gebet verteilt wird. Die meisten dieser Protokolle sind einsehbar auf einer Homepage: www.friedensgebet-berlin.de

PROZESSE
Das erste Gebet fand anlässlich des Besuches des amerikanischen Präsidenten nach dem 11. September 2001 in Berlin statt. Es folgten die Anti-Irak-Krieg-Demonstrationen im Oktober 2002 und Januar 2003. Unsere Gebete fanden auf der Bühne des Gendarmenmarktes statt: Im Anschluss an die offiziellen Demonstrationsredner stiegen wir auf die Bühne, einige von uns an der Kleidung erkennbar als Amtspersonen unserer jeweiligen Religionsgemeinschaften. Die äußere Erkennbarkeit hielt noch einige Zeit bei weiteren Gebeten an; sie war auch ein Blickfang für Journalisten. Einmal wurde sogar ein Artikel veröffentlicht mit dem Titel „Heilige Männer …“ Auf die Dauer nahmen wir aber Abstand von der offiziellen Kleidung. Alle stehen jeweils für sich als Christ, Hindu, Jude oder Muslim im Gebet und bringen das auf die Weise zum Ausdruck, die ihnen am angemessensten erscheint.
Von Anfang an war klar, dass es beim interreligiösen Gebet nicht darum gehen kann, von den Beteiligten einen kleinsten gemeinsamen theologischen Nenner im Gebet zu erwarten, auf den sie sich dann im Gebet zu beschränken haben. Schon der Begriff des „interreligiösen Gebets“ oder die Möglichkeit eines gemeinsamen Gebetes ist ja in einigen Religionsgemeinschaften umstrittenen. Aus christlicher bzw. katholischer Perspektive war der Bezug auf das Weltgebetstreffen in Assisi hilfreich, “ … das Gebet im Rahmen einer multireligiösen Begegnung, bei der Gebete verschiedener Glaubensgemeinschaften neben- oder nacheinander vollzogen werden. Während die Vertreter einer Glaubensgemeinschaft ihr Gebet vollziehen, hören die anderen Teilnehmer in respektvollem Schweigen zu.“ „Respektvolle Gegenwart“ ist möglich, auch wenn die Unterschiede, die nicht nur nebeneinander, sondern auch gegeneinander stehen, im Gebet des jeweils anderen hörbar oder spürbar werden.
So entschieden wir uns relativ zügig für den Vorrang der Praxis des Gebets vor einem theoretischen Konsens über theologische Fragen. Unser Ziel ist weniger der Dialog als vielmehr das Gebet selbst sowie die Offenheit dafür, dass in dem Gebet etwas wächst, was dann gemeinsam benannt werden kann. Zwar riskiert die Erklärung zum eigenen Selbstverständnis, die in den letzten fünf Jahren jedes Mal auf der Rückseite des aktuellen Handzettels stand und ausgeteilt wurde, auch eine gemeinsame theologische Sprache über den Begriff „des Heiligen“ (Neutrum), aber die Zustimmung zu diesem Text ist nicht einfach die Basis der Gemeinsamkeit der Betenden. Vielmehr ist das Gebet selbst zusammen mit der respektvollen Gegenwart die eigentliche Basis.

1. Gebet und Predigt
Schon bald zeigte sich, dass die einzelnen Mitglieder des Kreises für sich und vor der Gruppe einige Dinge klären musste. Eine erste Frage betraf das Verhältnis von Gebet und Predigt. Einige waren der Meinung, dass das Gebet in den sakralen Raum gehört und die Predigt in den öffentlichen Raum; somit müssten wir mit einer Botschaft an die Öffentlichkeit treten, wenn wir auf Straßen und Plätzen interreligiös präsent seien. Die Gegenposition bestand auf dem Gebetscharakter der Zusammenkunft: Die Betenden sprechen nicht zu Passanten oder zu einer als präsent vorgestellten Öffentlichkeit, sondern zum Himmel; selbst wenn das Gebet in seiner faktischen Wirkung etwas im Umfeld der Betenden und für diese bewirkt, so treten doch die Betenden absichtslos vor Gott, absichtslos in Hinblick auf etwas, was sie bei den Umstehenden erreichen wollen.
Diese erste Meinungsverschiedenheit führte dazu, dass uns einige verließen, die dieser Konzeption nicht zustimmen konnten. Umgekehrt klärte sich in dieser Anfangsphase ein erster Punkt für alle. Christlich ausgedrückt: Gebet ist Umkehr des Betenden zu Gott. Es ist nicht die Aufforderung an die anderen, zu Gott umzukehren. Es kann einem Betenden auch der Auftrag gegeben werden, anderen die Umkehr zu predigen. Aber das Hören dieses Auftrages setzt das Gebet voraus, und um dieses geht es zuerst einmal.

2. Loyalitäten
Ein nächste Klärung bzw. Scheidung ergab sich aus der Loyalitätsproblematik „nach hinten“, in der alle, die an dem Gebet teilnehmen, auf die eine oder andere Weise stehen. Besonders eklatant und schmerzlich brach sie einmal auf, als der jüdische Rabbi und der palästinensische Scheich ihre Teilnahme an dem Gebet in der Beziehung zu ihren Herkunftsgruppen „nach hinten“ nur dadurch rechtfertigen konnten, dass sie jeweils Stellung nahmen zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Situation drohte daraufhin innerhalb der Gebetsstunde zu eskalieren.
In langen Gesprächen wurde deutlich, dass einzelne Teilnehmer sich der Loyalitätsfrage „nach hinten“ nicht entziehen konnten. Es fielen Sätze wie: „Wenn dieser oder diese geht, dann kann ich nicht bleiben,“ oder: „Wenn diese oder jener zu der Gruppe gehört, dann kann ich nicht mehr kommen.“ Es war uns wichtig, die Loyalitätskonflikte ernst zu nehmen und respektieren, zumal es aus allen religiösen Gruppen und Gemeinschaften die Erfahrung gibt, dass Grenzen der Loyalität nach allen Seiten hin existieren, die mit Lebensentscheidungen und Zugehörigkeiten zu tun haben. So kann etwa ein Seelsorger, der einen Täter begleitet, nicht zugleich als Tröster des Opfers auftreten – und umgekehrt. Damit ist die Hoffnung auf Versöhnung und Einheit zwar nicht verloren, aber sie kann jetzt noch nicht durch das eigene Verhalten vorweggenommen werden. Einige verließen uns dann schließlich wegen dieser für sie höheren Loyalitäten.
Für das Gebet selbst blieb aus diesem Konflikt eine wichtige Konsequenz: Wir unterscheiden in unserem Gebet und in unseren Fürbitten nicht zwischen Opfern und Opfern – denen, die erwähnt werden dürfen, und denen, über die man schweigen muss; denen, die beklagt werden, und denen, die gerechtfertigt werden. Die Opfer terroristischer Gewalt dürfen ebenso genannt werden wie die Opfer staatlicher, militärischer oder schlicht krimineller Gewalt. Die einen Opfer zu erwähnen mag von der „anderen Seite“ als Provokation verstanden werden, aber diese Provokation muss dann eben ausgehalten werden.

3. Abgrenzungen
Doch es gab und gibt auch die umgekehrte Fragestellung: Wen lassen wir zu unserem Gebet nicht zu? Der Begriff „Sekte“ schien uns nicht auszureichen, um eine Ausgrenzung zu rechtfertigen. So wird zum Beispiel die in China verfolgte Falung-Gong-Bewegung gerne und unreflektiert als „Sekte“ bezeichnet. Wir haben sie hingegen gerne zu unserem Gebet eingeladen. Ein anderes Mal trafen wir uns zu einem Gebet im Zusammenhang mit dem Konflikt um den Bau der Ahmadiyya-Moschee in Pankow; hier war es immerhin wichtig, den Schein der interreligiösen Harmonie dahingehend zu durchbrechen, dass auf die schmerzlichen Erfahrungen hingewiesen wurde, die Menschen in Pakistan mit der Ahmadiyya-Bewegung gemacht haben und machen. Schließlich kam es zu einer Auseinandersetzung in unserer Gruppe, als sich einer der Teilnehmer zu einem interreligiösen Treffen einladen ließ, das von der „Vereinigungskirche“ des Sang Myung Mun, umstritten auch als „Mun-Sekte“ bekannt, organisiert wurde.
Im interreligiösen Gespräch war für die Frage der Zulassung zum Gebet das Thema der Opfer wichtig. Das Ausgrenzungskriterium ergibt sich aus dem Ausgrenzungsverbot: Wenn es nicht gestattet ist, Opfer gegen Opfer auszuspielen, so gilt andererseits, dass die in unserem Gebet vertretenen Religionen vereint sind in der Hoffnung auf eine opferfreie Welt. Wo Menschenopfer im Gebet oder anders religiös gerechtfertigt werden, ist eine Grenze, die uns als Gruppe des interreligiösen Gebets unterscheidet. Dies gilt sowohl für Grenzziehungen gegenüber religiöse Gruppen als Ganzen wie auch für Grenzziehungen innerhalb der religiösen Gemeinschaften, zu denen wir selbst gehören.
Ein weiteres Unterscheidungskriterium betrifft das Verhältnis zu Menschen, die religiöse Autorität beanspruchen. „Autorität“ kann auch positiv verstanden werden: Religiöse Schriften haben Autorität, Propheten haben Autorität, Amtsträger haben Autorität. Doch diese Autorität muss abgegrenzt werden gegenüber jenen Formen von Autoritätsansprüchen, die Menschen in Abhängigkeitsverhältnisse zu anderen Menschen führen. Autorität soll der Freiheit dienen. Das Gebet ist ein von außen unverfügbarer Ort, in dem sich die Seelen öffnen gegenüber einer Wirklichkeit, über die kein anderer Mensch eine Verfügungs- und Definitionsmacht hat. Das Gebet ist also ein Ort der Freiheit. Wer meint, diese Freiheit im Namen einer höheren Autorität aussetzen und in diesem Sinne „Gehorsam“ verlangen zu dürfen, muss beim „interreligiösen Gebet Berlin“ mit Widerstand rechnen.

4. Mission
Die Teilnehmer am interreligiösen Gebet kommen zum Teil aus Religionen, die einen missionarischen Charakter haben. Gelegentlich traten während des interreligiösen Gebetes empörte Passanten heran und riefen: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Auch innerhalb der religiösen Gemeinschaften stieß die Konzeption der „respektvollen Gegenwart“ auf kritisches Echo im Namen einer aktiven Bekehrungsmission. Interreligiöses Gebet mache keinen Sinn; „unser“ Auftrag sei es, dass alle Menschen am Ende Christen/Muslime etc. werden. Diese Kritik forderte zu einer Stellungnahme innerhalb der Gruppe des interreligiösen Gebetes heraus.
Die Teilnahme am interreligiösen Gebet setzt voraus, dass die richtig-falsch-Logik in Bezug auf das Gebet des anderen losgelassen wird. Es ist nicht möglich, in respektvoller Gegenwart neben dem anderen zu stehen, und sein oder ihr Gebet zugleich nach den Kategorien richtig und falsch zu bewerten. Respekt ist mehr als nur das Verschweigen der Missbilligung, die man gegenüber den inhaltlichen Prämissen und Aussagen des Gebetes des anderen empfindet. Der Respekt, um den es uns geht, ist ein Respekt des Herzens, nicht nur ein äußerliches Tolerieren.
Daraus folgt aber auch, dass der Missionsauftrag, der in das Zentrum insbesondere der monotheistischen Religionen gehört, nicht richtig erfasst ist, wenn er von dem Schema ausgeht, dass die anderen im Falschen leben und „wir“ im Richtigen. Dies entspricht im übrigen auch nicht – aus christlicher Sicht gesprochen – dem Selbstverständnis der biblischen Texte und der kirchlichen Theologie von „Mission“ und der Begegnung mit Menschen anderen Kulturen und Religionen: Gott schließt mit Noah einen Bund, der die ganze Schöpfung einschließt; Abraham nimmt den Segen Melchisedeks an; Jesus kritisiert das aktive Proselytenmachen der Schriftgelehrten, und der Geist Jesu wirkt bei den Völkern und öffnet das Volk Gottes den Völkern. Manche Texte der jeweils eigenen Tradition und vor allem einige Praktiken der Geschichte müssten von diesem Hintergrund neu gedeutet und einer Kritik unterzogen werden.
Will ich, dass alle Menschen Christen werden? Diese Frage stellt sich mir als christlichem Teilnehmer des interreligiösen Gebetes. Ich kann den missionarischen Impuls jedenfalls nicht mit diesen Worten beschreiben. Doch das ist nicht zu verwechseln mit einer falschen Bescheidenheit bezüglich des Auftrags und der Vision, die mit dem Evangelium verbunden ist. Religion hat immer auch mit einer universalen Vision zu tun. Daraus ergibt sich die Frage: Was ist die mit meinem Glauben verbundene Vision für die Welt und die Geschichte als Ganze? Über diese Frage konnten und können wir sprechen.

REGENBOGENBUND
Eines Tages wurde ich eingeladen, als Christ bei einer abendlichen Versammlung von Muslimen zur Noah-Aschura über den biblischen Noah zu sprechen. Der Regenbogenbund Gottes mit der ganzen Schöpfung erschien mir der Schlüssel für die Vision Gottes mit der Schöpfung. Ich war froh, auf die Straße als Ort des interreligiösen Gebetes hinweisen zu können. Unter dem Himmel ist die Vision der gemeinsamen Umkehr zum Gebet „geerdet“.

P. Klaus Mertes SJ, Juni 2007